Dincer Gücyeter nimmt seit seiner Auszeichnung mit dem Leipziger Buchmessepreis im Herbst 2023 regelmäßig an literarischen Diskussionsrunden teil, Lesungen vor großem Publikum gehören mittlerweile zu seinem Alltag. Umso anders und doch besonderer war der Vormittag am Anne-Frank-Gymnasium für den mittlerweile sehr gefragten und bekannten Schriftsteller, zu dem ihn in der Schulbibliothek ca. 70 Schülerinnen und Schülern der Klasse 11 freudig erwarteten. Im Deutschunterricht hatten sie Teile von Gücyeters prämierten Roman ‚Unser Deutschlandmärchen‘ studiert und Fragen zu seinem Wirken und Arbeiten als Schriftsteller vorbereitet. „Ihr dürft mich wirklich alles fragen, wir gehen hier ganz locker miteinander um.“ Brach Gücyeter sofort das Eis und zeigte rasch, dass er auch unter Jugendlichen gut ankommt. Die Schülerinnen und Schüler nahmen ihn in den folgenden 90 Minuten immer wieder beim Wort, sodass sich verschiedenste interessante Diskussionen zwischen dem 45jährigen Autor und seinem jugendlichen Publikum entwickelten.
In seinem prämierten Werk Unser Deutschlandmärchen von 2022 gewährt Gücyter tiefe Einblicke in seine Familiengeschichte. Es handelt davon, wie er seine Kindheit als Kind türkischer „Gastarbeiter“ im niederrheinischen Nettetal erlebte, welche Probleme seine Eltern hatten und es dreht sich immer wieder um die Erfahrung, wie sich der Autor Deutsch als neue Sprache aneignen musste. Dincer Gücyter trug verschiedene Stellen aus seinem Roman vor, der vor einigen Monaten in Berlin auch als Bühnenversion Premiere feierte. Eine längere Diskussion entwickelte sich dabei zu den Reaktionen von Gücyters Familie auf das Buch und die entstehende öffentliche Aufmerksamkeit, um den Umgang mit Schreibblockaden und die Suche nach künstlerischer Inspiration. Für lebhaftes Interesse sorgte auch die Meinung des Autors zu den zukünftigen Einflüssen von künstlicher Intelligenz auf die schreibende Zunft. Der Schriftsteller zeigte sich fest davon überzeugt, dass es auf dem Buchmarkt zwar schwieriger werde, aber das Schreiben als künstlerischer Prozess nicht von Maschinen abgelöst werde.
Schulleiter Dr. Alexander Heimes, der Gücyeter vor einigen Monaten eingeladen hatte, zeigte sich begeistert von der Veranstaltung: „Wann haben Jugendliche einmal die Möglichkeit, einen derart erfolgreichen und aktuellen Autor so hautnah zu erleben und ungefiltert mit Fragen Löchern zu können?“ Tatsächlich entstanden viele Fragen des jugendlichen Publikums auch spontan, gerade die ungefilterten Bemerkungen sorgten für manchen Lacher. Das große formulierte Interesse wurde gekonnt von zwei Schülerinnen und Schülern moderiert, die sich intensiv auf ihre Aufgabe vorbereitet hatten, aber auch Respekt vor dem Vormittag im Vorhinein hatten. „Man ist schon aufgeregt, wenn man dem Autor begegnet, aber er hat uns sofort das Gefühl gegeben, dass er ehrlich interessiert ist an uns und unseren Fragen. Nach zwei Minuten waren wir ganz entspannt.“ Berichten die Moderierenden Nele, Marie und Nirko. Szenenapplaus gab es, als Dincer Gücyeter für mehr Offenheit gegenüber allen Arten von Texten, die Jugendliche heute interessieren, zum Beispiel Hiphoptexte, und um Verständnis für den anderen Blick auf Lesen und Autoren der jungen Generation auch in der Schule warb.
Am Ende wurde der Autor noch einmal grundsätzlich, als er den Schülerinnen und Schülern von seinem beruflichen Werdegang, seinen Zielen und Träumen als Jugendlicher und seinem späten Wechsel in die Literaturprofession erzählte. „Wichtig ist nicht was du machst, wichtig ist die Ausdauer. Und egal, was ihr macht, macht es mit Verantwortung und Liebe. Nur so könnt Ihr glücklich sein.“ Verabschiedete sich Dincer Gücyeter schließlich, bevor er sichtlich mit Spaß noch den ein oder anderen Selfiewunsch erfüllte.
Langeweile muss Dincer Gücyeter derweil nicht befürchten. Er ist unlängst mit der renommierten Auszeichnung des Stadtschreibers von Bergen bedacht worden, die für ein Jahr gilt und regelmäßige Verpflichtungen mit sich bringt. Die Arbeit an einem neuen Buch steht ebenfalls bevor. Die Lesung am Anne-Frank-Gymnasium wird indes nicht der letzte Auftritt mit jugendlichem Publikum für ihn sein. Ab Dezember wird der Autor ca. 40 Schulen in Kooperation mit dem Bildungsministerium besuchen und dort aus ‚Unser Deutschlandmärchen‘ lesen und sicher auch wieder in launige Diskussionen über Literatur, Werdegang und Schriftstellerdasein einsteigen. Auch nach Aachen wird Dincer Gücyeter schon bald wieder kommen. Denn das Stadttheater der Kaiserstadt ist unter den ersten Bühnen der Republik, die Gücyeters Werk ab Januar 2025 in einer Dramaversion aufführen.