Vortrag über die Schrecken der NS-Herrschaft – die jüdische Zeitzeugin Henriette Kretz besucht das Anne-Frank-Gymnasium

In der großen Schulbibliothek stehen die Zuschauerstühle bereit, das Rednerpult ist zurechtgerückt, ein Sessel steht in Position und die Mikroanlage samt Ständer ist aufgebaut. Das Publikum, die zehnten Klassen des Anne-Frank-Gymnasiums, sitzen still da in angespannter Erwartung. Doch die Referentin reagiert erst einmal ganz anders, als alle erwarten. Die 90-jährige Henriette Kretz bittet darum, das Pult zu entfernen, nimmt das Mikro in die Hand und hat nicht vor, sich in den folgenden gut zwei Stunden hinzusetzen. Sie sucht die Nähe zu Ihren jungen Zuhörerinnen und Zuhörern, denn das, was sie zu sagen hat, ist ihr zu wichtig, um ruhig und im Sitzen vorzutragen.


Henriette Kretz ist seit Jahren gefragte Vortragende in Schulen und Bildungseinrichtungen und kam nun auf Einladung der Maximilian-Kolbe-Stiftung nach Aachen, auf deren Homepage auch das frühe Leben der Zeitzeugin kurz skizziert wird: Henriette Kretz wurde in Polen geboren, ihre jüdische Familie musste im Herbst 1939 vor den einmarschierenden Deutschen fliehen. Sie entkam mit ihren Eltern zunächst nach Lemberg und bald darauf ins nahe Sambor. Doch 1941 wurden sie erneut vertrieben und mussten in den jüdischen Stadtbezirk umziehen, wo kurze Zeit darauf ein Ghetto eingerichtet wurde. Sie waren ständig verschiedensten Gefahren ausgesetzt. Es gelang ihrem Vater lange Zeit, die Familie vor der Erschießung zu retten und aus dem Gefängnis zu befreien. Flucht und Verstecken waren an der Tagesordnung. Henriette Kretz‘ Eltern wurden schließlich vor ihren Augen erschossen. Sie selbst konnte in einem Nonnenkloster untertauchen und so die Zeit des NS-Terrors überleben.

Geschichtslehrer Sven Querbach hat Vortrag und Diskussion mit den Schülerinnen und Schülern im Unterricht vorbereitet. „Man merkte schon in den Geschichtsstunden, in denen wir vorbereitet und Fragen gesammelt haben, wie ernsthaft die Jugendlichen die Thematik angehen und wie groß das Interesse ist, die Dinge von jemandem zu hören, die all das selbst erlebt hat.“ Tatsächlich entwickelt sich ein fesselnder Vormittag. Frau Kretz erzählt über ihre Kindheit und die Ausgrenzung als Jüdin, bevor sie auf die Tage zu sprechen kommt, in denen sie Flucht und Angst in verschiedenen Verstecken erlebt, und ihre Suche nach Schutz als Kind nach der Ermordung ihrer Eltern auf offener Straße schließlich in einem Waisenhaus endet. Nach einem Bildervortrag erfragen die Schülerinnen und Schüler verschiedenste Dinge von Frau Kretz. Man diskutiert über Widerstand und die Momente, in denen Verfolgung, Krieg und Tod real wurden. Auch Anne Frank spielt eine Rolle. Aber es geht auch um das lange Leben nach dem Schrecken der NS-Zeit und was die Person Henriette Kretz in den vergangenen Jahrzehnten ausmachte, und über das Spannungsfeld aus Gedenken, Verurteilen und Verzeihen.

Zum Schluss warnt Henriette Kretz eindringlich davor, Demokratie nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Diktatur ende in Krieg und Mord, dagegen gelte es ein Leben lang zu kämpfen. Einen Kampf, den Frau Kretz noch am gleichen Tag zusammen mit einem weiteren Zeitzeugen in einem Vortrag abends an der RWTH in Aachen fortsetzt.

Die Zehntklässlerinnen und Zehntklässler zeigten sich derweil tief beeindruckt und bewegt von den persönlichen Darstellungen von Frau Kretz. „Das war eine Geschichtsstunde, die man nie mehr vergisst.“ Stellt nach der Veranstaltung ein Schüler fest und bittet Frau Kretz um ein Grußwort mit Autogramm. Das Buch, das Henriette Kretz zu ihren Erlebnissen geschrieben hat, hat er bereits bestellt.

„Ich bin sehr froh, dass wir die Chance bekommen haben, eine Zeitzeugin zu treffen, die all diese schlimmen Dinge wirklich erlebt hat“, ergänzt eine Schülerin, „in ein paar Jahren wird so etwas nicht mehr möglich sein.“

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